Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Dokumentation

Fotoimpressionen vom Heinrich-Heine-Abend am 12.12.2023


„Angst essen Seele auf? – Über-Leben in Zeiten der Krisen“

Gruppenlesung in der Kirche St. Agnes, Köln, am 13. Oktober 2023

Die Lesung war trotz des vermeintlichen „Unglücksdatums“ ein voller Erfolg. Unsere Werbung per E-Mail und in den sozialen Medien, aber auch die brennende Aktualität des Themas hatten zur Folge, dass über siebzig ZuhörerInnen kamen, von denen die meisten bis zum Schluss blieben, obwohl das Programm lang und anspruchsvoll war. Nach einer Begrüßung durch Peter Otten, den Pastoralreferenten, der unsere Arbeit wie immer zuverlässig und engagiert unterstützte, traten insgesamt acht AutorInnen auf, von denen vier nicht aus dem Kreis des VS stammten. Sie waren durch Flyer und persönliche Ansprache eingeladen worden, etwas zu dem Thema zu schreiben, unter welchem Aspekt und in welcher literarischen Form auch immer. Das Ergebnis war vielfältig und überraschend: Es gab Lyrik, Kurzgeschichten und Satiren zu hören, tagebuchartige Impressionen und Kommentare zur sog. Flüchtlingsdebatte, die an Schärfe und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließen.

Wie waren Ihre letzten Tage? Ein wenig Sonne getankt? Gut gegessen? Vielleicht irgendwo einen kleinen Bummel unternommen, ein Schnäppchen ergattert – oder ein gutes Buch gelesen? Und hoffentlich weit und breit keinen Flüchtling gesehen. Wie schön für Sie. Möglicherweise haben Sie sich Gedanken über Ihre Zukunft gemacht. So wie ich. Mein Plan: Ich würde gerne Schlepperin werden. (Gabriele Gillen: Zukunftsperspektiven)

Andere Texte befassten sich mit Themen wie Corona, Homophobie, Energiekrise, Inflation, sozialer Vereinsamung, Rechtsradikalismus, dem Ukraine-Krieg und konkreten Existenznöten, die in dieser Zeit nicht nur uns SchriftstellerInnen heimsuchen. Dass die politische Realität uns sozusagen überrollen würde, ahnten wir bei der Vorbereitung noch nicht. „Ein wichtiger Abend, der gut getan hat – nach einer krassen, angstvollen Woche“, fasste Peter Otten mit Blick auf den Krieg in Israel und dem Gaza-Streifen zusammen. Nach dem offiziellen Programm gab es, ganz biblisch, Wein und Brot im Vorraum der Kirche, wobei  intensiv weiter diskutiert wurde.  

Es lasen: Sabine Schiffner, Frank Stuckardt-Feierabend, Peter Otten, Barbara Stewen, Andrea Hack und Andrea Laska. Ein Text von Christian Linker, der kurzfristig absagen musste, wurde von Peter Otten vorgetragen, der gemeinsam mit Eva Weissweiler durch den Abend führte.


Veranstaltung zu Hilde Rubinstein

Zur Collage vom 13.5.23

Links von oben nach unten: Ruth Zimmermann, Gesang; die Kölner Autorinnen Angelika Hensgen und Eva Weissweiler; Henry Bleicher, Vorstand HMG und Mitorganisator von verbrannt&verbannt – rechts: Hilde Rubinstein; Peter Dilling, Kontrabass; Wilfried Bellinghausen, Vibraphon/Percussion.

Ein Gedicht von Hilde Rubinstein:

Die Leute von heute
sind im Bilde.
Sie sprechen beiläufig von:
Zerstörungsqualität
Waffenfamilie
Kriegspotential
Neutronenwaffen
Professionalismus der
Seestreitkräfte…

Andere Leute von heute
sind primitiver und
zugleich bis zur Lethargie
blasiert – noch nie gewesene
Kombination!
Jeder Haifisch aus Plastik
oder Menschenaffe oder
Skorpion erregt sie dermaßen,
dass einige weibliche Beschauer
hinterher zum Doktor müssen.

Das Bildnis der Erde aber – des TELLUS –
unserer Heimstätte –
zum ersten Mal im Geschehenen
als schwebende Kugel wahrnehmbar:
dieses Außerordentliche und wirklich
ganz Große: Unsere Erde im Weltall –
lässt sie ihren Gummi weiterkauen und
allenfalls nach dem Preis der Kamera
fragen, die das da
knipste …

Nachfolgend Ausschnitte aus dem Vortrag von Eva Weissweiler und Angelika Hensgen:

Liebe Freundinnen und Freunde,

die meisten von Ihnen werden den Namen „Hilde Rubinstein“ noch nie gehört haben oder bestenfalls mit Berühmtheiten wie dem Pianisten Arthur Rubinstein oder Helena Rubinstein, die Pionierin der Kosmetik-Branche, assoziieren. Tatsächlich war Hilde Rubinstein eine ganz besondere Malerin, Lyrikerin, Dramatikerin und Prosa-Autorin, die immerhin 93 Jahre lang, von 1904 bis 1997, gelebt hat, ohne dass die Literaturgeschichtsschreibung auf sie aufmerksam geworden wäre.

Bevor ich auf die möglichen Gründe für diese Ignoranz eingehe, möchte ich zusammen mit meiner Kollegin und Freundin Angelika Hensgen etwas aus ihrem Leben erzählen.

1904 in Augsburg als Tochter eines ukrainisch-jüdischen Ingenieurs und einer bayrischen Jüdin geboren, kam sie nach dem Ersten Weltkrieg nach Köln, wo ihrem Vater eine gehobene Stellung bei der Deutz-AG angeboten worden war. Sie scheint den Umzug nicht sehr bedauert zu haben, denn in Augsburg und Hannover, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, waren sie oft gehänselt und schikaniert worden, sei es, weil sie „Russen“ oder weil sie „Juden“ waren:

Angelika:

Als der Krieg kam – ich meine den von 1914 – durften Fritz und ich plötzlich nicht mehr zur Schule gehen, und Mama durfte nicht mehr mit der kleinen Berta spazieren gehen, und Papa durfte nicht mehr zur Fabrik gehen. Das Letztere war das Schlimmste, weil Papa so schrecklich traurig aussah, wenn er – die Hände auf dem Rücken – im Zimmer hin und her ging. Manchmal blicke er sehnsüchtig auf die Straße hinunter. Da unten standen einige Kerls, drohten mit den Fäusten und schrien:

„Verdammtes Russenpack!“

„Die glauben, du willst die große Brücke sprengen!“ rief Mama und warf sich aufs Bett und weinte.

„Brücke sprengen? Unsinn! Das können sie nicht glauben, wir leben schließlich nicht im Mittelalter!“

„Doch! Frau Schmittke hat es gesagt! Und die glauben auch, Onkel Jakob hat eine Höllenmaschine bei sich!“

„Onkel Jakob?“

„Ja, in der kleinen Schachtel, wo er Tabak drin hat.“

Nach einem Monat bekamen wir den Bescheid, dass wir deutsche Mitbürger geworden waren. Ich war sehr froh, dass ich nun kein russisches Kind mehr war. Aber war ich das denn gewesen? Wir sprachen ja nicht Russisch zu Hause, und ich war auch nicht in Russland geboren, sondern hatte mein ganzes Leben hier im Land verbracht.

Mission News Theme by Compete Themes.